#FEHLERausradieren: Warum ist Programmatic-Advertising eher Fluch als Segen?

Programmatic-Advertising erlaubt, Online-Anzeigen automatisch und zum Bestpreis an passende Zielpersonen in Echtzeit auszuspielen. Dabei kann es passieren, dass Ads in zweifelhaften Umfeldern erscheinen. Unternehmen müssen #FEHLERausradieren und #BESSERwerden, indem sie aufhören, auf diese Weise Hass und Hetze zu finanzieren. Ein Appell von Media-Experte Michael M. Maurantonio.


Ist Programmatic-Advertising Fluch oder Segen?| Haufe Group
© Michael M. Maurantonio

Lieber Herr Maurantonio, gemeinsam mit Thomas Koch haben Sie die Initiative #StopFundingHateNow ins Leben gerufen. Was steckt dahinter?

Thomas Koch und ich haben die Initiative gegründet, weil wir sehen, dass es in diesem Bereich keinerlei Fortschritt gibt. Tagtäglich schalten tausende Unternehmen, darunter auch die ganz großen Konzerne dieser Welt, vollautomatisch ausgespielte Anzeigen. Vielen ist überhaupt nicht bewusst, dass ihre Ads in höchst fragwürdigen Umfeldern erscheinen. Rassistische, sexistische und antisemitische Plattformen sind – neben solchen von Klimawandel-, Holocaust- und Corona-Leugnern – dabei noch die harmlosen. Sogar Websites mit kinderpornografischen und pädophilen Inhalten dienen als Werbeumfelder. Das ist schwer zu ertragen, da dreht es einem schnell den Magen um.

Das klingt in der Tat dramatisch. Warum lassen wir das zu?

Seit 2016 tut sich international Einiges. Sleeping Giants ist eine sehr erfolgreiche Initiative – allerdings fast nur in den USA. Die Gründer rufen Unternehmen über ihren Twitter-Account und via E-Mail dazu auf, keine Anzeigen mehr bei Breitbart News zu schalten. Nach gut einem halben Jahr hatten sich mehr als 2.000 Unternehmen aus aller Welt öffentlich verpflichtet, nicht mehr auf diesem Portal zu werben. Dabei verfolgt Sleeping Giants das Ziel, dieser und ähnlichen Plattformen den Geldhahn zuzudrehen. Durch Programmatic-Advertising erhalten sie nämlich Millionen an Dollar und Euro – Jahr für Jahr.

In Deutschland gibt es – ebenfalls seit 2016 – die Bewegung „Kein Geld für Rechts“. Leider ist es seitdem nicht gelungen, Unternehmen auf die wirtschaftliche Relevanz und gesellschaftliche Brisanz der Thematik aufmerksam zu machen. Darum mussten wir, Thomas und ich, einfach aktiv werden. Wir wollen und können es nicht länger hinnehmen, dass Firmen – ob unbewusst oder sehenden Auges – Hass und Hetze finanzieren. Im Rahmen von #StopFundingHateNow klären wir Unternehmen auf und appellieren, die Thematik endlich ernst zu nehmen und anders an die Mediaplanung heranzugehen. 

Dabei haben wir recht schnell gemerkt, dass es zwei Lager gibt: Da sind zum einen Menschen, die einfach Spaß daran haben, andere zu diskriminieren und zu diskreditieren. Sie finden in den Social-Media einen optimalen Nährboden für ihre abstoßenden und menschenverachtenden Gedanken. Diese Personen berufen sich gern auf ihr Recht, ihre Meinung frei äußern zu dürfen. Sofern es keinen juristischen Tatbestand gibt, kommt man dagegen nicht an. Zum anderen gibt es Unternehmen, die sich der Problematik nicht bewusst sind. Sie beauftragen eine Agentur, Anzeigen automatisch auszuspielen, in dem – in meinen Augen – naiven Glauben, die Agentur würde ihren Job schon gut machen. 

Und genau hier liegt der Knackpunkt: Natürlich könnte die Agentur beim Aufsetzen der Kampagne in Google die Einstellungen entsprechend anpassen. Jedoch lassen sich Ad-Tech-Unternehmen wie Google das teuer bezahlen. Budget, das viele Firmen nicht bereit sind, zu investieren. Sie nehmen stattdessen lieber in Kauf, dass ihr guter Name neben wirklich ekelhaften Artikeln erscheint. „Das sieht ja keiner“, lautet dann oftmals die lapidare Ausrede. Aber das ist nicht der Punkt. Es geht darum, dass diese Plattformen für jede programmatisch ausgespielte Anzeige Geld erhalten. Geld, mit dem sie Hass, Desinformation, Fake-News und Propaganda finanzieren – ganz egal, ob die Anzeige ein Mensch oder ein Bot „gesehen“ hat. Dem müssen sich Unternehmen stellen, sie müssen endlich aufwachen und die Konsequenzen ziehen. Damit, einen Purpose zu definieren, ist es bei Weitem nicht getan. Was zählt, sind Taten. Nicht schöne Worte.

Können Sie uns ein Beispiel nennen?

Es gibt so viele, wirklich abstoßende Beispiele. Zu nennen wäre etwa eine vermeintliche Dating-Plattform. So weit, so unverdächtig. Bei genauerem Hinsehen wurden hier jedoch Kinder und Teenager angepriesen, flankiert vom Hochglanz-Banner eines namhaften Unternehmens. Wohl wissentlich, dass ich mich damit strafbar mache, habe ich einen Screenshot angefertigt und an die zuständigen Behörden weitergeleitet. Seit über fünf Monaten warte ich auf eine Reaktion – bislang vergeblich. Ein weiteres Beispiel ist ein diffamierender Artikel über eine US-amerikanische Politikerin, begleitet von einer Foto-Montage, die sie hängend an einem Baum zeigt. In den Kommentaren haben sich Anhänger des Ku-Klux-Klan darüber lustig gemacht und angeregt, man könne das Bild doch in die Tat umsetzen. Das ist Anstiftung zum Mord! Neben diesem Artikel erschien die unschuldige Anzeige einer renommierten Firma.

Wie kann so etwas passieren?

Naja, Keywords wie „Tree” und „Hang“ stuft der Algorithmus per se nicht als kritisch ein. Es sind trainierte KI-Algorithmen, die darüber entscheiden: Wo treffe ich den User, der zu meinen Kriterien passt? Und: Wo lässt sich die Anzeige zum günstigsten Preis ausspielen? Diese Analyse geschieht völlig automatisch binnen weniger Millisekunden. Ob das Umfeld moralisch unbedenklich ist, spielt dabei keine Rolle – außer, Unternehmen bezahlen dafür. Das führt auch zu gegenteiligen Reaktionen. Wenn zum Beispiel die FAZ eine Rezension mit den „falschen“ Keywords im Feuilleton veröffentlicht, kann das zur Folge haben, dass neben Google auch andere, auf Brand-Safety spezialisierte Unternehmen dieses erstklassige Werbeumfeld nicht als brand-safe einstufen. Die Folge: Die FAZ erhält keine Werbegelder, womit sie hochwertigen Qualitätsjournalismus finanzieren würde. Stattdessen greifen Plattformen wie Breitbart, Epoch Times und WayneDupree die Werbebudgets ab. Sie nutzen die Schwächen des Algorithmus aus, indem sie oberflächlich unbedenkliche Artikel ohne kritische Keywords veröffentlichen, die sich bei genauerem Hinsehen als Propaganda entpuppen. Ein Beispiel: Man stelle sich einen bekennenden und in der Szene umjubelten Neonazi vor, der sich zugleich als Weinkenner einen Namen gemacht hat. Der Algorithmus beurteilt sein Wissen über Wein, nicht aber seine persönliche Einstellung. Hinzu kommt, dass viele dieser Seiten ganz gezielt Bots benutzen, die vorgeben, Website-Besucher zu sein – und damit die Reichweite künstlich vergrößern. 

Was genau tun Sie dagegen?

Wir haben inzwischen rund 200.000 Websites gescreent. Bei Auffälligkeiten nehmen wir einen Fakten-Check vor. Auf dieser Grundlage berechnen wir dann einen Score, für den wir unter anderem zwischen Fake-News, Desinformation und tendenziöser Berichterstattung differenzieren. Von den untersuchten internationalen Websites handelt es sich bei circa 180.000 um No-Go-Seiten. Eine weitere Erkenntnis: Drei bis fünf Prozent der deutschsprachigen Websites schmücken sich mit ethisch und moralisch fragwürdigen Inhalten. Wenn man nun die deutschlandweiten Marketingbudgets betrachtet, kommt man zum verstörenden Ergebnis, dass diese Plattformen Werbegelder in Höhe von mehr als 100 Millionen Euro jährlich erhalten – gestützt unter anderem vom Google-Ökosystem. Wir wissen, dass sich hinter all diesen Plattformen nur wenige Drahtzieher aus aller Welt verbergen. Sie sind sehr gut vernetzt und treiben zum Beispiel die Corona-Desinformation proaktiv voran. Damit setzen sie unser Leben – und die Zukunft unserer Kinder – bewusst und wissentlich aufs Spiel.

Wir haben in den vergangenen fünf Jahren versucht, dem auf verschiedenen Ebenen entgegenzuwirken. Die Werbeindustrie, allen voran die Vermarkter und natürlich Google, hat wenig Interesse daran, die Situation nachhaltig zu verändern. Sie könnte ja Werbegelder verlieren. Vielen Unternehmen ist das Thema zu heikel. Sie wollen nicht mit derartigem Gedankengut in Verbindung gebracht werden und legen lieber den Mantel des Schweigens über ihre zweifelhaften Programmatic-Advertising-Kampagnen. Auch die Politik traut sich nicht an die Thematik ran. Was mich persönlich sehr bestürzt und beschämt, ist, dass Verbraucherschutzorganisationen ebenfalls einen Bogen um die Problematik machen. Sie argumentieren, das Thema sei nicht brisant genug. Einzig die Medien zeigen etwas Interesse, das Thema hat schließlich Skandal-Potenzial. Jedoch befürchten die großen Medienverbände, dass Unternehmen ihre Budgets abziehen könnten. Und das wollen die Verbände natürlich verhindern.

Warum reagieren die Unternehmen nicht? Sie haben es doch selbst in der Hand, wohin ihre Werbegelder fließen.

Audits und Marktstudien haben ergeben, dass sich in der Schweiz mit 15 seriösen Websites rund 80 Prozent der Gesamtbevölkerung erreichen lassen. In Deutschland mögen es vielleicht 100 Websites sein. Daneben gibt es weitere relevante Werbeumfelder, die völlig harmlos sind. Wenn man nun bedenkt, dass eine übliche Programmatic-Advertising-Kampagne Anzeigen auf rund 6.000 Websites ausspielt, ist klar, dass schwarze Schafe darunter sein müssen. Das Problem: Den Unternehmen ist das nicht bewusst. Die Hauptgründe liegen auf der Hand: Zeit, Wissen und Geld. 

Insbesondere große Firmen haben keine Zeit, sich selbst um ihr Digital-Marketing zu kümmern. Sie sourcen das an Agenturen aus. Dort arbeiten junge Menschen, die mit dem Internet großgeworden sind. Persönliche Kontakte, etwa zu Verlagsleitern und Chefredakteuren, gibt es in der Regel nicht. Das hat zur Folge, dass viele Mitarbeiter in den Agenturen keinen Bezug zu Nachrichten-Plattformen und Medien haben. Dabei wäre es so wichtig, dass sie jedes einzelne Medium kennen, das sie ihren Kunden als Werbeumfeld empfehlen. Sie sind es stattdessen gewohnt, einmal hier und einmal da zu klicken – und die Kampagne läuft. Und dann wäre da noch das liebe Geld. Technologie-Unternehmen lassen sich bekanntermaßen dafür bezahlen, Anzeigen auf kritischen Seiten nicht auszuspielen. Dieses Geld wollen viele Firmen nicht investieren. Sie spenden einmalig für einen guten Zweck und ruhen sich lieber auf ihrem guten Gewissen aus, als ihr Marketingbudget so einzusetzen, dass sie damit niemandes Würde verletzen. Derartiges Conscience-Washing  ist keine Lösung, sondern Teil des Problems.
 
Was empfehlen Sie Firmen, die etwas dagegen tun möchten?

Es herrscht großer Kosten- und Zeitdruck, das ist klar. Natürlich können Firmen ihre Kampagnen an Agenturen outsourcen. Aber sie selbst müssen kontrollieren, wo sie werben – und was das für ihr Selbstverständnis als Unternehmen und ihr Image bedeutet. Sie sollten sich im Rahmen des Marketing-Controllings von ihrer Agentur eine Liste aller Seiten vorlegen lassen, auf denen ihre Anzeige erschienen ist. Und sich diese Websites dann detailliert anschauen. Auch bei der Auswahl des Dienstleisters genau hinzuschauen und nicht alles zu glauben, was er verspricht, wäre ein Tipp von mir. Apropos Agenturen. Damals, in meiner Zeit als Agenturleiter, war es mein Selbstverständnis, dass ich als Treuhänder meiner Kunden agiere, dass ich dafür verantwortlich bin, ihr Budget sinnvoll und verantwortungsbewusst einzusetzen. Eine Rückbesinnung auf diese „alte Tugend“, das würde ich mir wünschen. Das ist umso wichtiger, wenn die Technologie alles so verlockend einfach macht. 

Daneben sollten wir unseren Umgang mit den Social-Media überdenken. Wer in Sachen Brand-Safety kein Risiko eingehen möchte, sollte die Finger von YouTube, Facebook und Konsorten lassen. Sie spiegeln die Gesellschaft wider – samt all ihrer Randgruppen, die sich gekonnt in den Vordergrund drängen. Fehler können hier schnell geschäftsschädigende Folgen haben. Darum appelliere ich an die Unternehmen: Bildet euch weiter, eignet euch das nötige Wissen an! Fragt bei euren externen Beratern nach, wenn ihr etwas nicht versteht. Sich für die eigene Unkenntnis zu schämen und zu stolz fürs Nachhaken zu sein, ist absolut fehl am Platz. Stattdessen geht es darum, für sich selbst zu definieren: Wer bin ich? Welche Werte sind mir wichtig? Was kann ich tun, um diese Werte zu transportieren? Opportunismus und falsche Lippenbekenntnisse sind der falsche Weg. Marken müssen authentisch sein und glaubhaft kommunizieren – selbst, wenn das bedeutet, für gewisse Menschen zum Hassobjekt zu werden. Aber was soll´s? Kunden wissen diese Haltung zu schätzen, und die anderen boykottieren die Marke ohnehin – so oder so.

Hand aufs Herz: Was ist Ihre Motivation? Warum tun Sie sich das alles an?

Natürlich ist das Auditing eine Dienstleistung, mit der ich Geld verdiene. Ich möchte darüber aufklären, was schiefläuft. Und warum. Worum es mir aber im Grunde meines Herzens geht, ist, dass meine beiden Kinder stolz auf mich sein können. Mir ist es ganz wichtig, dass sie von ihrem Vater behaupten können, dass er sich dafür einsetzt, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen. Sie sollen in einer Gesellschaft ohne Populismus, Rassismus, Diffamierung, Diskreditierung, Diskriminierung, Hass und Hetze aufwachsen. Dafür mache ich mich stark – jeden Tag aufs Neue.

Herr Maurantonio, wir danken Ihnen sehr für das emotional bewegende Gespräch und Ihren Einsatz für eine bessere Gesellschaft!

Als Experte für Consumer-Centric-Media ist Michael M. Maurantonio seit 1997 in Marketing und Werbung tätig. Er engagiert sich als Founder von #StopFundingHateNow und als Mitstreiter von Dr. Augustine Fou im Kampf gegen AdFraud. Seit 2011 ist der gebürtige Italiener als selbstständiger Unternehmer und Berater für Schweizer KMU und internationale Unternehmen sowie als Consulting Partner der House of Technology AG Business Development tätig. Zudem arbeitet er seit 2014 als Consulting Partner bei Accelerom Inc. Im Verlauf seiner beruflichen Laufbahn hat er individuelle Media-Strategien für Marken wie L'OREAL Group, NESTLE Switzerland und Unilever entwickelt. Die Kampagne „Mazda Speed-Dating“, für die er die Media-Strategie erarbeitet hat, hat 2017 bei der Swiss Marketing Trophy den ersten Platz belegt.

Möglichkeit zur Vernetzung:
Michael M. Maurantonio auf LinkedIn

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Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers verzichtet.
Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

Christian Schmitt
Christian Schmitt
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